Zur Regel 400.000 hatte ich vor ca. zwei Jahren hier bereits ein paar Worte verloren und ich habe dieses Thema jetzt noch einmal etwas aufgebohrt - daher in der Überschrift der Zusatz "reloaded".
Ganz grob gesagt beschreibt die Psychoakustik die
Zusammenhänge zwischen physikalischen Schallereignissen und der kognitiven
Signalverarbeitung durch das menschliche Gehirn zu einem subjektiven
Höreindruck. Kurz: Das, was sich messtechnisch erfassen lässt, wird subjektiv
womöglich anders vom Hörer empfunden, als aufgrund objektiver Messergebnisse
erwartet wird. Im HiFi-Bereich gibt es verschiedene Phänomene, die sich der
Psychoakustik zuordnen lassen. Im Folgenden soll es um die so genannte Regel
400.000 gehen, zu deren Erläuterung ich einen kurzen Ausflug in den Bereich der
Telefonie vornehmen muss.
Die ITU (International Telecommunication Union) hat als
Empfehlung für die Sprachübertragung im Bereich Telefonie die Bandbreite von
300 Hz bis 3.400 Hz festgelegt. Aus Sicht eines HiFi-Enthusiasten wäre diese
Bandbreite für einen Lautsprecher zwar inakzeptabel, aber niemand wird
bestreiten wollen, dass heutige Telefone funktionieren und der Gesprächspartner
am anderen Ende der Leitung gut zu verstehen ist. Und das, obwohl die
Sprach-Grundfrequenzen bei Männern ungefähr bei 100 Hz und bei Frauen um die
180 Hz liegen - also jeweils unterhalb der eingangs erwähnten unteren
Grenzfrequenz von 300 Hz. Upps - wie bitte kann das funktionieren? Alles kein
Problem, das menschliche Gehirn ist nämlich in der Lage, aus den Obertönen
einer Frequenz (also aus deren Vielfachen) eben jene Ursprungsfrequenz zu
reproduzieren und sie dem akustischen Signal wieder "hinzuzufügen".
Dafür benötigt das Gehirn zwar etwas "Rechenleistung", aber es
funktioniert.
Nun soll es aber nicht um Telefonie, sondern um die Regel 400.000 gehen. Diese
unter Tontechnikern wohlbekannte alte Regel besagt, dass für eine zufrieden
stellende tonale Balance das Produkt der unteren und der oberen (vom
Lautsprecher übertragenen) Frequenzen 400.000 (Hz2) betragen muss.
Auf wen konkret diese Regel zurückgeht und ob sie je empirisch bestätigt wurde,
muss an dieser Stelle leider offen bleiben. Gleichwohl finden sich im
HiFi-Bereich Beispiele, die diese Regel bestätigen - was also bedeutet dies
alles nun konkret für den HiFi-Bereich?
Der Frequenzumfang der Compact Disc beispielsweise wurde in
Anlehnung an den Wahrnehmungsbereich des menschlichen Gehörs auf 20 Hz bis
20.000 Hz festgelegt; das Produkt beider Frequenzen ergibt eben jene 400.000
(Hz2). Zufall? Wohl kaum. Nun verfügt aber so gut wie kein
Lautsprecher über eine bis 20 Hz lineare Frequenzgangkurve, zumal die
allerwenigsten Wohnraumsituationen die Wiedergabe solch tiefer Frequenzen
überhaupt zulassen. Eine Orgel kann aber Frequenzen bis 16 Hz wiedergeben, ein
Klavier Frequenzen bis immerhin 25 Hz. Vorausgesetzt, diese Frequenzen befinden
sich überhaupt auf dem Tonträger, so werden diese vom Lautsprecher allenfalls
sehr leise wiedergegeben. Die meisten Lautsprecher verlassen im Bass zwischen
35 und 60 Hz den "Pfad der Tugend", sprich: Die Frequenzgangkurve
macht den Adler. Trotzdem "hört" der Mensch einen 25 Hz-Ton, indem
das Gehirn aus den Obertönen (z.B. der 1. Harmonischen bei 50 Hz usw.) das 25
Hz-Signal rekonstruiert.
Diese "Rekonstruktion" kostet das menschliche
Gehirn jedoch quasi "Rechenleistung", dadurch steht nicht mehr die
gesamte Kapazität dem Musikgenuss zur Verfügung und es klingt subjektiv nicht
mehr so "entspannt". Dieser Sachverhalt hilft erklären, warum von
vielen durch den Einsatz eines hochwertigen Subwoofers auch der Mittel- und
Hochtonbereich viel freier empfunden wird - die gesamte Rechenleistung des
Gehirns steht plötzlich offenbar dem kompletten Frequenzspektrum zur Verfügung,
weil sie sich nicht mehr partiell mit der Rekonstruktion tiefer Töne plagen
muss!
Erstaunlicherweise gibt es nun aber eine scheinbar genau
entgegen gesetzte Möglichkeit, den gleichen "Entspannungseffekt" zu
erzielen: Anstatt einen Subwoofer einzusetzen, wird im Hochtonspektrum der
gleiche (wie im Tiefton fehlende) Oktav-Anteil einfach ausgeblendet. Ganz
praktisch bedeutet das, dass ein bis ca. 40 Hz linear arbeitender Lautsprecher
ein bei 10 kHz einsetzendes Tiefpassfilter verpasst bekommt und alles wäre
theoretisch wieder im Lot (40 Hz x 10.000 Hz = 400.000 Hz2). Die
untere fehlende Oktave zwischen 20 und 40 Hz (eine Oktave entspricht stets
einer Frequenzverdopplung) wird am oberen Ende des hörbaren Frequenzbereichs
quasi "symmetrisch" ausgeblendet (obere fehlende Oktave zwischen 10
und 20 kHz).
Was vordergründig widersinnig anmutet und zunächst nichts
weiter als eine bloße Behauptung darstellt, findet in der Praxis allerdings
belegende Beispiele. So läuft der mir persönlich sehr gut bekannte Lautsprecher
Hommage SoloVox vom Auditorium 23 mit dem filterlosen Vollbereichsbreitbänder
Phy-HP H21 LB15 bis ca. 45 Hz linear herunter, allerdings fällt der
Hochtonpegel (bedingt durch das Chassis) knapp oberhalb von 10 kHz relativ
steil ab. Ich schätze diesen Lautsprecher außerordentlich und habe - außer im
direkten Vergleich zu anderen Lautsprechern - nie Hochtonglanz vermisst
(gleichwohl räume ich ein, dass es Zeitgenossen gibt, die lästern, dies sei der
"beste Mitteltöner der Welt"). Womöglich eine Folge der ungefähr
symmetrischen "Beschneidung" der Frequenzextreme? Ich glaube, ja -
dieser Lautsprecher erfüllt die Regel 400.000 einigermaßen gut.
Genau umgekehrt funktioniert es bei einem ganz ähnlichen
Lautsprecher in gleicher Weise: In der Debütausgabe der Fidelity berichtet RK darüber, dass er seine heißgeliebte Rondo - ebenfalls vom
Auditorium 23, ebenfalls mit dem Phy-HP H21 LB15 - um den Hochtöner 597 von
Line Magnetic ergänzt hat. Die Rondo "solo" spielt im Bass deutlich
kräftiger als die Hommage SoloVox, hat im Hochton aber die gleiche Limitierung;
die "Beschneidung" der Frequenzextreme ist also nicht ganz
symmetrisch. So gesehen ist der Theorie der Regel 400.000 folgend die
"kleinere" SoloVox eigentlich sogar der bessere Lautsprecher...
Ergänzt um den LM 597 Hochtöner hingegen berichtet RK über seine Rondo nun von
"einem völlig neuen Lautsprecher. Der nun in seiner Gesamtheit schon
furchterregend an reiner Geschwindigkeit zugelegt hat, ein Effekt, der
seltsamerweise bis hinunter zu tiefen Frequenzen wirksam ist,...". Ruft
man sich die Regel 400.000 ins Bewusstsein, so mutet dieser Effekt gar nicht
mehr so seltsam an, gleichwohl natürlich nicht alle positiven Veränderungen nur
dieser Regel zuzuschreiben sind. Aber dadurch, dass die unterbelichtete oberste
Oktave von 10 kHz bis 20 kHz nun "erleuchtet" wird, stimmt die
Symmetrie wieder; die Rekonstruktion der fehlenden Oberwellen aus den
Grundsignalen unterhalb von 10 kHz entfällt nun - das Gehirn hat mehr
Ressourcen für den eigentlichen Musikgenuss parat.
Ein weiteres Beispiel für die Gültigkeit der Regel 400.000
mag Omas Dampfradio sein. Wer einmal ein gut erhaltenes Exemplar hören durfte,
wird festgestellt haben, dass es trotz objektiv erheblicher Limitierungen von womöglich
deutlich mehr als einer Oktave "oben und unten" dennoch außerordentlich
ausgewogen klingen kann und sehr entspannter Hörgenuss durchaus möglich ist.
Und das ist gewiss nicht (allein) auf die Röhren im Inneren des Gehäuses zurück
zu führen...
Ganz offenbar muss das menschliche Gehirn bei symmetrischer
Beschneidung der Frequenzenden weniger Rechenleistung aufwenden und es klingt
daher rein subjektiv "besser", "entspannter". Natürlich hat
die Regel 400.000 auch ihre Grenzen; wie immer hilft eine
Extremwertbetrachtung. Die Wurzel aus 400.000 ergibt eine Singularität bei ca.
632,5 Hz - so ist mit Sicherheit kein Musikgenuss möglich. Andererseits
erforderten (ungeachtet der technischen Machbarkeit) wiederzugebende Frequenzen
bis hinunter zu 1 Hz eine obere Grenzfrequenz von 400 kHz - das liegt nicht nur
weit außerhalb des menschlichen Hörbereichs, sondern sogar außerhalb des
Hörbereichs einer Fledermaus (9 kHz bis 200 kHz)...
(Ergänzend sei
angemerkt, dass es Hörer gibt, die beim Einsatz eines bis 30 kHz oder 40 kHz
laufenden Superhochtöners das gesamte Frequenzspektrum als ausgewogener
empfinden, obwohl Frequenzen oberhalb von ca. 20 kHz außerhalb des menschlichen
Hörbereichs liegen. Eine schlüssige Erklärung hierfür muss ich Ihnen schuldig
bleiben.)
Die Quintessenz der Regel 400.000 in psychoakustischer
Hinsicht scheint mir also zu sein, dass eine Entlastung der
"Fehlerkorrektur" des menschlichen Gehirns - genauer: eine Entlastung
der kognitiven Signalverarbeitung - dazu führt, dass das subjektive
Klangempfinden verbessert wird. Ich finde, diese Erkenntnis ist durchaus einen
Gedanken wert und kann jedem helfen, durch bestimmte Maßnahmen - sprich:
Symmetrierung der Ausblendung oder der Erweiterung der Frequenzextreme,
beispielsweise durch Subwoofer oder Superhochtöner - das eigene Setup gezielt
zu verbessern. Oder sie führt dazu, dass Sie - nun mit womöglich tieferem
Verständnis für die Zusammenhänge - noch entspannter und zufriedener den
Qualitäten alter Dampfradios frönen.
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